Montag, 2. Juli 2012

Das Schwarze Kollektiv - Eine Textprobe

Der Schatten vor ihm wächst rasch in die Höhe, doch ehe die Furcht in das Herz des Knaben kriechen kann, wird er gepackt, geschultert, fortgeschleppt. Fort von allem, was er kannte, fort von dem, was sein Zuhause war. Fremde Stimmen formen unbekannte Worte. Sie mehren sich, versammeln sich, werden zur Sprache. Kühl und klar an ihrer Oberfläche, voll dunkler Ströme knapp darunter. Dann geschieht etwas Unerwartetes. Die irdische Schwere verweht, und der nächtliche Himmel öffnet sich. Uralt ist dieser Himmel. Schon zerfasert an den Rändern. Dort oben explodieren Sonnen, ziehen sterbende Kometen vorbei. Stumm sind die Gestirne. Einsam und gleichgültig.

Die Nacht vergeht in einem grellen Blitz. Der Traum ist geborsten und überschüttet den Knaben mit flüssigem Eis. Sein Leib gefriert, der Herzschlag setzt aus. Ewigkeit umfängt ihn. Sie wird ihn empor zu den Sternen tragen. Dorthin, wo der Tod keine Grenze mehr ist.

Doch da wird der sterbende Knabe von etwas getroffen. Es ist weich und warm, und es schlägt einen Riss in den ihn ummantelnden Frost. Seine Sinne erwachen, und sie spüren Leben. Junges, zappelndes Leben. Es ist über ihm und unter ihm und neben ihm, doch es wird rasch schwächer. Schon erlischt es, sinkt herab, treibt vorbei, um eins zu werden mit der Dunkelheit. Ein Funke glüht auf im Innern des Knaben und setzt seine Seele in Brand. Eine ungekannte Gier erwacht. Die Gier nach Leben! Sie ist stärker als die Angst, stärker als der Schmerz, und sie zwingt ihn, zu kämpfen! Er kämpft gegen seine Schwäche, und er kämpft gegen den Frost, vor allem aber kämpft er gegen hundert andere kleine Leiber, die sich verzweifelt an ihr Dasein klammern. Er zerrt an Armen und er reißt an Beinen. Er schlägt in gefrorene Mägen und tritt in erlöschende Gesichter. Immer weiter strebt er empor. Vor ihm liegt die Zukunft, hinter ihm der Tod. Da finden seine Hände plötzlich Halt. Er packt zu, zieht sich heran, stemmt sich empor und windet sich in die Nacht hinaus. Gefrorener Kies knirscht unter seinem gefühllos gewordenen Leib. Er versucht, aufzustehen, aber er schafft es nicht. Das Adrenalin ist verrauscht, er ist am Ende seiner Kräfte. Etwas Raues, Schweres wird über ihn geworfen. Es erhält sein Leben, doch es wärmt ihn nicht. Er kann nicht aufhören zu zittern. Dann ist der Schatten wieder da. Nein, nicht nur einer, sondern viele. Sie starren auf den Jungen herab. Die Augen glühende Kohlen, die Münder Grubenschächte.
„Willkommen beim Schwarzen Kollektiv!“, sagen sie.

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